(… ein Kapitel aus dem Buch „Der Teen-Coach – NLP für Jugendliche“ über Stressbewältigung mit NLP. Die Beispiele lassen sich sehr leicht auf Erwachsene übertragen. Hier wird auch erklärt, was im NLP „Ankern“ heißt, und eine Methode zum Selbst-Ankern von entspannter Aufmerksamkeit und wacher Präsenz gezeigt.)
Schon wieder viel zu spät aufgestanden? Die Hausaufgaben vergessen? Nörgelnde Eltern, nervige Geschwister? Wenn du gestresst bist, dann schüttet der Körper Adrenalin aus. Damit macht er sich bereit zum Kampf oder zur Flucht. Das ist ein Überbleibsel aus unserer biologischen Geschichte; heutzutage ist es zum Glück kaum noch nötig oder sinnvoll, körperliche Gewalt einzusetzen.
Aber für einen Steinzeitmenschen war es überlebenswichtig, mittels dieses Adrenalinstoßes blitzschnell im Kampfmodus zu sein. Dadurch verengt sich auch sein Blickfeld: Er sieht nur noch mit Tunnelblick und fixiert sich auf seinen Gegner oder seine Beute; alles andere verschwimmt im Hintergrund. Stell dir vor, wie unser Steinzeit-Ahne plötzlich einem Löwen gegenübersteht. Das wäre kein guter Zeitpunkt, sich durch die Umgebung ablenken zu lassen: „Waah, ein Löwe! … aber hübsche Blumen wachsen hier …“
In Gefahrensituationen ist dieser Tunnelblick also sehr zweckmäßig; dann kann es nötig sein, sich auf eine einzige Sache zu konzentrieren. In unserem modernen Alltag begegnen wir aber kaum noch Löwen, und der Tunnelblick macht es uns unnötig schwer, den Überblick über die Situation zu behalten.
Die meisten Menschen in unserer Zivilisation bringen trotzdem einen Großteil ihres Lebens im Stress-Modus zu! Wenn ihr Verhalten oder ihre Gedanken kritisiert werden, dann fühlen sie sich persönlich „angegriffen“. Und anschließend kreisen die Gedanken um diesen Angriff: „Das hätte ich sagen sollen!“ – „So eine Frechheit, was bildet der sich ein!“ – „Aber wenn der mir morgen wieder so blöd kommt, dann …!“ usw.
Der Körper bleibt im Stress-Modus, und dadurch kommt es ihm so vor, als wäre er ständig in Gefahr. Deshalb erscheint es so wichtig, weiter über die Situation nachzudenken. Und so geht’s dann im Kreis: Gedanken erzeugen Stress, Stress erzeugt Gedanken. Dazu muss noch nicht einmal wirklich etwas passiert sein – es reicht schon die Vorstellung, was passieren könnte!
Wahrscheinlich kennst du das auch. Vielleicht hattest du mal Angst vor einer Schularbeit oder einem Referat, vielleicht hattest du Streit mit einer Freundin oder du hattest Sorgen, wie ein Freund sich verhalten wird …
Interessanterweise fällt es uns kaum auf, wenn wir mit diesem Tunnelblick sehen! Wir haben uns so daran gewöhnt, dass wir ihn für normal halten. Schon in der Grundschule haben wir gelernt, uns zu „konzentrieren“ – was bedeutete, angestrengt auf ein Wort oder eine Zahl zu starren und alles andere in den Hintergrund zu drängen.
Und weil alles andere im Hintergrund bleibt, merken wir oft nicht einmal, dass wir überhaupt angestrengt denken. Daher erinnern wir uns auch nicht, dass es eine Alternative gibt! Denn Konzentration muss nicht mit Stress und auch nicht mit Anstrengung verbunden sein.
Wenn wir „in Gedanken sind“, dann richtet sich der Tunnelblick auf einen Gedanken, dann auf seinen Nachfolger, dann auf den nächsten … Wir bleiben auf den Gedanken-Kanal fixiert, und der Rest der Welt bleibt im Hintergrund. Dadurch erscheinen die Gedanken-Inhalte so real. Das kann Spaß machen, wenn es sich um angenehme Tagträume handelt, und es kann nützlich sein, wenn es etwas zu Planen gibt. Meistens aber erzeugt dieser Gedanken-Tunnel ein eher dumpfes, enges, unbefriedigendes Gefühl, so als wäre man nicht ganz da.
Wenn „du“ in so einem Gedanken-Tunnel bist (eigentlich ist ja nur die Aufmerksamkeit im Tunnel, nicht du), dann ist es oft schwierig, die Gedanken abzustellen. Denn der Gedanke „Ich will nicht mehr daran denken“ ist ja auch nur ein Gedanke mehr!
Viel leichter ist es, einfach auf den Raum zu achten, in dem du bist, deinen Körper zu spüren, die Geräusche um dich herum zu bemerken, die Gegenstände oder Menschen um dich herum anzusehen … kurz gesagt: dein Bewusstsein zu erweitern, indem du deine fünf Sinne wieder in den Vordergrund kommen lässt. Das belebt und erfrischt, und in dieser wiedergefundenen geistigen und körperlichen Weite haben auch die Gedanken locker Platz. Sie erscheinen jetzt nur nicht mehr so ernst und wichtig, nicht mehr als „Wirklichkeit“, sondern werden als „nur so Gedanken“ erkannt.
Blackout
Dieser Trick, wieder mehr Raum ins Erleben einzulassen, wird dir auch helfen, wenn du mal einen Blackout hast, zum Beispiel in einer Schulaufgabe oder wenn du abgefragt wirst. „Blackout“ heißt ja nichts anderes, als dass du „den Faden verloren“ hast: Die Gedankenkette reißt plötzlich ab, und es kommt nur noch der Gedanke: „Oh Gott! Oh Gott! Ich weiß nicht mehr weiter! Oh Gott!“ … in einer Endlosschleife.
Wenn du in diesem Moment wieder zum Weite-Modus übergehst, dann löst sich diese Fixierung sofort, du hast wieder Überblick über die Situation und das Denken kann sich neu sortieren. Das klingt sehr einfach, und das ist es auch.
Dieser Weite-Modus bedeutet für den Körper: „Entwarnung! Keine Gefahr!“ – also kann er locker lassen. Und wenn du entspannt bist, hast du einfach mehr Überblick, mehr Gelassenheit, mehr Humor, mehr Flexibilität, mehr Spaß!
Per Schieberegler in die Gegenwart
Hier eine Methode, die du üben kannst (aber übe sie nicht in der Schulaufgabe!), um die Aufmerksamkeit wieder in die fünf Sinne zu lenken, so dass sie aus dem Tunnelblick in die Weite des Erlebens zurückkehrt (auch „Achtsamkeit“ genannt):
• SEHEN:
Lege den kleinen Finger der linken Hand auf den Fingernagel deines rechten Zeigefingers. Stell dir den Zeigefinger als Schieberegler vor, der die Intensität des visuellen Erlebens anzeigt (und später steuern wird): Je mehr das Sehen bewusst wird, desto mehr fährst du den Finger entlang in Richtung Handgelenk.
Jetzt achte auf alles, was du momentan sehen kannst. Wieviele Farben siehst du? Wieviele Schattierungen? Welche runden Formen und welche eckigen? Wie sind die Abstände zwischen den Gegenständen? Welche Bewegungen siehst du? Wie weit ist dein Blickfeld? Lass es noch weiter werden!
Während deine Aufmerksamkeit sich immer mehr aufs Sehen richtet, fahre mit dem linken kleinen Finger langsam den rechten Zeigefinger herab über den Handrücken bis zum Handgelenk. Das sollte etwa zwei Minuten dauern.
• HÖREN:
Jetzt lass den kleinen Finger weg und lege stattdessen den linken Ringfinger auf den Fingernagel des rechten Mittelfingers, der zum Schieberegler fürs Hören wird.
Achte auf alles, was du jetzt hören kannst: die Geräusche im Raum und draußen, deinen Atem, vielleicht ein Rauschen in deinen Ohren …
Nimm auch hier die Abstände zwischen verschiedenen Geräuschen wahr. Achte auch auf die Stille, aus der die Klänge hervortreten, und die besonders „hörbar“ wird, wenn ein Geräusch endet.
Während deine Aufmerksamkeit sich immer mehr aufs Hören richtet, fahre mit dem linken Ringfinger langsam den rechten Mittelfinger herab über den Handrücken bis zum Handgelenk. Das sollte auch wieder etwa zwei Minuten dauern.
• FÜHLEN:
Hebe den linken Ringfinger wieder auf und lege stattdessen den linken Mittelfinger auf den Nagel des rechten Ringfingers – unseren Startpunkt fürs Fühlen.
Achte jetzt auf alles, was du fühlen kannst: den Boden unter deinen Füßen (wenn du die Füße auf dem Boden hast); deine Strümpfe (wenn du welche trägst); das Gefühl, wenn du mit den Zehen wackelst; deine Fußsohlen; den Raum, den deine Füße und deine Hände einnehmen; deinen ganzen Körper und die Stellen, wo er die Umgebung berührt (Boden, Sitz oder Bett); die Kleidung an deinem Körper und die Luft, die deinen Körper umgibt; die Temperatur; vielleicht ein Luftzug; das Heben und Senken der Brust beim Atmen; die Luft, die du in der Nase spürst – kühler beim Einatmen und wärmer beim Ausatmen …
Während deine Aufmerksamkeit sich immer mehr aufs Fühlen richtet, fahre mit dem linken Mittelfinger langsam den rechten Ringfinger herab über den Handrücken bis zum Handgelenk. (Wie üblich: ungefähr zwei Minuten.)
• RIECHEN / SCHMECKEN:
Statt dem Mittelfinger lege als letztes den Zeigefinger der linken Hand auf den Nagel des rechten kleinen Fingers. Dies wird der Schieberegler für Riechen und Schmecken.
Welchen Geschmack hast du gerade im Mund? Welche Gerüche nimmst du momentan wahr? Wenn du willst, kannst du an verschiedenen Gegenständen riechen (Blumen, Socken …).
Während deine Aufmerksamkeit sich immer mehr aufs Riechen und Schmecken richtet, fahre mit dem linken Zeigefinger langsam den rechten kleinen Finger herab bis zum Handgelenk.
• ALLE SINNE GEMEINSAM:
Bisher haben wir die ganze Aufmerksamkeit auf jeweils einen Sinneskanal gerichtet (außer beim Riechen und Schmecken, die wir zu einem „Schieberegler“ zusammengefasst haben, weil sie so eng miteinander verwandt sind). Jetzt wollen wir alle Sinne gemeinsam erleben und intensivieren.
Lege dazu die vier Fingerspitzen der linken Hand auf die Fingernägel der rechten Hand (so wie vorher, aber diesmal gleichzeitig). Fahre nun mit den Fingern der linken Hand die Finger der rechten Hand entlang bis zum Handgelenk. Achte dabei darauf, wie die Sinne gleichzeitig erlebt werden und wie sie „raumfüllend“, klarer, weiter und lebendiger werden.
Ergebnisse:
Nach dieser Übung berichten viele Leute, wie stark sich ihr Erleben verändert hat. Hier einige Beispiele:
• Farben werden intensiver, satter und leuchtender wahrgenommen (zum Beispiel „knallen“ Rot-Töne viel mehr); das Sehen wird schärfer und plastischer.
• Viel mehr Geräusche werden gleichzeitig gehört und können klarer lokalisiert werden; das Gehör verbessert sich und Klänge werden lauter.
• Die Gedanken haben aufgehört oder sind in den Hintergrund getreten, und die Nervosität, die mit vielen Gedanken verbunden ist, hat sich gelegt.
• Der Körper wird als Ganzes erlebt, statt dass nur einzelne Körperteile bewusst sind; ein Gefühl wacher Ruhe breitet sich aus; es ist ein Genuss, einfach nur da zu sein und Sinneseindrücke zu erleben.
Du kannst natürlich ganz andere Erfahrungen machen, das ist individuell verschieden. Aber wenn die Übung funktioniert hat, dann besitzt du jetzt einen Schieberegler, der deine Aufmerksamkeit sanft und schnell in die sinnliche Gegenwart zurückkehren lässt, in einen Zustand von Achtsamkeit und Präsenz.
ANKER
Beim ersten Durchgang war das Entlangfahren an den Fingern nur ein Anzeiger: Je intensiver die Wahrnehmung eines Sinneskanals, desto mehr fährt der Finger in Richtung Handgelenk. Wenn dieser Zusammenhang aber erst mal hergestellt ist, dann funktioniert er auch umgekehrt: Wenn du die Finger entlang fährst, dann weiß der Organismus (oder das Unbewusste): Aha, das bedeutet, die Aufmerksamkeit auf die Sinne zu lenken. Je öfter du die Übung mit den einzelnen Fingern wiederholst, desto stärker wird dieser Zusammenhang und desto leichter und schneller kannst du in diesen entspannten, wachen Zustand kommen.
Die Verknüpfung eines Zustands mit einem Auslöser (in unserem Fall dem Schieberegler) heißt im NLP „Ankern“. Jeder Bestandteil einer Erfahrung (also jeder Sinneseindruck, der zu dieser Erfahrung gehört) kann die ganze Erfahrung wieder hervorrufen: Die Erinnerung ist an ihn „geankert“. Wenn du zum Beispiel ein Lied hörst, das in deinem letzten Urlaub immer in der Strandbar lief, dann wird dieses Lied wieder Erinnerungen an den Urlaub wecken: Bilder vom Strand und von Leuten, die du getroffen hast, vielleicht den Klang der Wellen, das Gefühl von Wärme und Sand und Salz auf der Haut … Das Lied versetzt dich wieder in Urlaubsstimmung; es ist ein Anker für Urlaubsstimmung.
Auch die Werbung arbeitet mit solchen Ankern: Du siehst im Fernsehen sexy Models, die auf einer tollen Party viel Spaß haben – und wünschst dir, auch zu diesen glücklichen Partygängern zu gehören und viel Spaß mit Models zu haben. Im Werbeclip läuft ein bestimmter Song und ein Produkt wird dazu gezeigt. Egal ob Bier oder Kaugummi oder Handy oder Schuhe oder Shampoo – jedenfalls werden die schönen Bilder an die Party und den Wunsch, dabei zu sein, geankert. Im Unbewussten entsteht eine Verbindung, als ob du auf die Party kämst, wenn du dieses Handy kaufst, oder als ob du zum Model würdest oder mit einem flirten würdest, nur weil du dieses Bier trinkst. Und jedes Mal, wenn du den Werbesong hörst, werden diese Bilder in deinem Unbewussten wieder aktiviert.
Die Welt ist voller Anker
Die Welt ist voller solcher Anker, und das lässt uns vielleicht Dinge kaufen, die wir nicht brauchen („Aber du hast doch schon einen mp3-Player!?“ – „Ja, aber keinen von Apple, mit dem ich mich filmen kann, wie ich gerade 3D-Fotos mache, und das live auf YouTube übertragen kann!“). Wir können uns Anker aber auch zunutze machen, so wie wir das in der vorigen Übung getan haben.
Ein Anker ist wie ein Akku. Lade ihn immer wieder mal auf, indem du bewusst darauf achtest, was du gerade siehst, hörst, fühlst, riechst und schmeckst, und dabei langsam die einzelnen Finger entlang fährst. Dann kannst du ihn umso effektiver einsetzen, wenn du mit deiner Aufmerksamkeit „voll da sein“ willst. Um den Anker abzurufen, brauchst du nur den Teil, wo du alle vier Finger gleichzeitig entlang fährst. Probier das mal aus, wenn du dich besser konzentrieren willst und wenn du Gedankenschleifen unterbrechen möchtest. Aber auch einfach so, um die sinnliche Gegenwart (das Eis, das Bad, das Bett …) mehr zu genießen. Dieser Anker kann dich auch sehr viel wacher, aufmerksamer und spontaner im Zusammensein mit jemand anderem machen!
Prinzipiell kann jeder Zustand geankert werden. Ob er in einer bestimmten Situation wieder abgerufen werden kann, hängt davon ab, wie gut er zu ihr passt, wie stark der Anker und wie intensiv der momentane Zustand ist.
An Depressionen wird ein Fröhlichkeitsanker nicht viel ändern. Ein Anker ist kein Knopf, den man auf einer Fernbedienung drückt und der das Programm auf jeden Fall wechselt – sondern eher eine Erinnerungshilfe fürs Unbewusste, ein Angebot, den momentanen Zustand zu ändern.
Manche NLP-Bücher vermitteln den Eindruck, als sollte man ständig an seinem Zustand rumschrauben. Das nährt den Glauben, dass du oder dieser Moment oder das Leben ständiges Nachhelfen und Verbessern brauchen. Meistens weiß der Organismus aber von selbst sehr genau, welcher Zustand gerade passt, und du kannst ihm darin einfach vertrauen. Du willst dich ja auch nicht um die richtige Menge Sauerstoff im Blut kümmern müssen oder beim Gehen jedem Fuß bei jedem Schritt sagen müssen, was er tun soll. Ohne diese Einmischung läuft „es“ einfach – von selbst.
Wenn das Denken sich aber mal wieder in Endlosschleifen verheddert oder sich eine Gewohnheit hartnäckig hält, dann kann ein Anker dem Organismus helfen, die Spur zu wechseln, sich an anderen Erlebensweisen zu orientieren und sich auf einen passenden Zustand zu besinnen.
Auf meiner anderen Website „OpenSense“ gibt es ein Video, das das Thema noch aus anderen Blickwinkeln betrachtet: Stress und Tunnelblick
… und hier eine andere Methode (auch als Video), um präsent und entspannt im Hier und Jetzt zu sein: Erlebensfeld der Sinne